Verteidigungs(Militär)hoheit

I. Verlust existentieller Verteidigungshoheit der Mitgliedstaaten

1. Die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik integriert der Vertrag von Lissabon in den Bereich der existentiellen Staatlichkeit der Europäischen Union. Sie ist nicht mehr, wie nach dem bisher geltenden Vertrag über die Europäische Union (Maastricht-Vertrag), Teil des völkerrechtlichen Staatenbundes neben dem Staatenverbund, der seine Regelung vornehmlich im Vertrag über die Europäische Gemeinschaft gefunden hatte (hat). Wie in eine Staatsverfassung die Verteidigungsverfassung gehört, beispielsweise Art. 115a ff. GG die Verfassung des Verteidigungsfalles, so regelt der Vertrag von Lissabon in Art. 28a (42) bis 28e (46) EUV die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheits-politik der Art. 10a ff. (21 ff.) EUV. Das allein erweist, daß der Verfassungs-vertrag einen Staat, einen Bundesstaat, mit existentieller Staatlichkeit verfaßt. Demgemäß lautet Art. 28a (42) Abs. 1und Abs. 2 EUV wie folgt:

„1. Die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist integraler Bestand-teil der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Sie sichert der Union eine auf zivile und militärische Mittel gestützte Operationsfähigkeit. Auf diese kann die Union bei Missionen außerhalb der Union zur Friedenssicherung, Konfliktverhü-tung und Stärkung der internationalen Sicherheit in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen zurückgreifen. Sie erfüllt diese Aufgaben mit Hilfe der Fähigkeiten, die von den Mitgliedstaaten bereitgestellt werden.

2. Die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik umfaßt die schrittweise Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik der Union. Diese führt zu ei-ner gemeinsamen Verteidigung, sobald der Europäische Rat dies einstimmig beschlossen hat. Er empfiehlt in diesem Fall den Mitgliedstaaten, einen Beschluß in diesem Sinne im Einklang mit ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften zu erlassen.“

Die weiteren Absätze sollen hier nicht im Wortlaut zitiert werden. Sie be-handeln den besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten und deren Verpflichtungen aufgrund des Nordat-lantikvertrages, verpflichten die Mitgliedstaaten der Union, für die Umset-zung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zivile und mili-tärische Fähigkeiten als Beitrag zur Verwirklichung der vom Rat festgelegten Ziele zu Verfügung zu stellen, insbesondere ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern und eine Europäische Verteidigungsagentur, insbe-sondere zur Entwicklung der Verteidigungsfähigkeiten, zu schaffen (Absatz 3 des Art. 28a (42) EUV). Absatz 4 der Vorschrift bestimmt, daß der Rat auf Vorschlag des Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik oder auf Initiative eines Mitgliedstaats einstimmig Beschlüsse zur Gemeinsa-men Sicherheits- und Verteidigungspolitik, einschließlich der Beschlüsse über die Einleitung einer Mission nach diesem Artikel erlassen kann. Absatz 5 er-möglicht es, eine Gruppe von Mitgliedstaaten mit der Durchführung einer Mission im Rahmen der Union zu beauftragen, die zur Wahrung der Werte der Union und im Dienste ihrer Interessen geschieht. Nach Absatz 6 begrün-den die Mitgliedstaaten, die anspruchsvollere Kriterien in Bezug auf die mili-tärischen Fähigkeiten erfüllen und die im Hinblick auf Missionen mit höchs-ten Anforderungen untereinander weitergehende Verpflichtungen eingegan-gen sind, eine Ständige Strukturierte Zusammenarbeit im Rahmen der Union. Nach Absatz 7 schulden alle Mitgliedstaaten im Falle eines bewaffneten A-griffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung im Einklang mit Art. 51 der Charta der Vereinten Nationen. Dies läßt den besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten unberührt (UAbs. 1). Die Verpflich-tungen und die Zusammenarbeit in diesem Bereich bleiben im Einklang mit den im Rahmen der Nordatlantikvertrags-Organisation eingegangenen Ver-pflichtungen, die für die ihr angehörenden Staaten weiterhin als Fundament ihrer kollektiven Verteidigung und das Instrument für deren Verwirklichung ist (UAbs. 2). Art 28 b und EUV regeln näher den Gegenstand und die Durchführung der Missionen. Art. 28d (45) EUV richtet die Europäische Ver-teidigungsagentur und Art. 28e (46) EUV die Ständige Strukturierte Zusam-menarbeit ein.

Das Europäische Parlament wird (lediglich) zu den wichtigsten Aspekten und den grundlegenden Weichenstellungen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik von dem Hohen Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik regelmäßig gehört und über die Entwicklung der Politiken in diesem Bereich unter-richtet (Art. 21 (36) Abs. 1 S. 1 EUV). Der Hohe Vertreter „achtet darauf, daß die Auffassungen des Europäischen Parlaments gebührend berücksichtigt werden“ (S. 2). „Die Sonderbeauftragten können zur Unterrichtung des Euro-päischen Parlaments mit herangezogen werden“ (S. 3). Das Parlament kann Anfragen oder Empfehlungen an den Rat und den Hohen Vertreter richten und zwei Mal jährlich führt es eine Aussprache über die Fortschritte bei der Durchführung der genannten Politiken durch (Absatz 2). Diese Beteiligung ist nicht sehr bedeutungsvoll und genügt keinesfalls einem militärpolitischen Parlamentsvorbehalt, wie er sich aus dem demokratischen Prinzip ergibt .

Die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die nach Art. 28a (42) Abs. 2 S. 1 EUV „die schrittweise Festlegung einer gemeinsamen Ver-teidigungspolitik der Union“ umfaßt und nach Satz 2 dieses Absatzes zu einer „gemeinsamen Verteidigung“ führt (vgl. auch Art. 11 (24) Abs. 1 UAbs. 1 EUV), sobald der Europäische Rat dies einstimmig beschlossen hat, schließt mehr und mehr die eigene Verteidigung der Mitgliedstaaten aus. Die gemein-same Verteidigung bedarf zwar eines Beschlusses der Mitgliedstaaten „in die-sem Sinne“. Das aber behält nur den Mitgliedstaaten die eigene Verteidigung vor, die sich nicht in die gemeinsame Verteidigung einbinden lassen. Die Si-cherheits- und Verteidigungspolitik des Vertrages von Lissabon ist prozedural und militärisch auf die gemeinsame Verteidigung ausgerichtet (Art 11 (24) Abs. 1 UAbs. 1 EUV). Die Europäische Verteidigungsagentur arbeitet aus-schließlich im Interesse der gemeinsamen Verteidigung der Union, insbeson-dere führt der bewaffnete Angriff auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates zu Verpflichtungen der anderen Mitgliedstaaten, zu „aller in ihrer Macht ste-hende Hilfe und Unterstützung“, wird also wie ein Angriff auf alle Mitglied-staaten, die Europäische Union eben, den durch den Vertrag von Lissabon geschaffenen Bundesstaat, verstanden. Wenn auch die Sicherheits- und Verteidigungsverfassung Vorbehalte zugunsten eines besonderen Charakters der Si-cherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten (Neutralitätspflichten), zugunsten der gemeinsamen Verteidigung in der Nordatlantik-Vertragsorganisation und zugunsten der Mitgliedstaaten, die zusammen multinationale Streitkräfte aufstellen, kennt und akzeptiert, daß die Mitgliedsta-ten eigenständige zivile und militärische Fähigkeiten zur Verteidigung haben, so verlagert doch Art. 28a (42) EUV in Verbindung mit Art. 28b bis e (43-46) EUV die Verteidigung wesentlich auf die Europäische Union. Diese Verfa-sung geht weit über ein Verteidigungsbündnis, wie es der Nordatlantikvertrag begründet 707 , hinaus und konstituiert allemal die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungshoheit der Union, also die existentielle Staatlichkeit einer Verteidigungshoheit und damit die existentielle Staatlichkeit im Bereich der äußeren Sicherheit. Zudem wird durch die Entwicklung der gemeinsamen Verteidigung die eigenständige Verteidigungsfähigkeit der Mitgliedstaaten, die sich daran beteiligen, eingeschränkt, wenn nicht aufgehoben, so daß diese einen wesentlichen Teil der existentiellen Staatlichkeit einbüßen. Demokratie-rechtlich ist bedenklich, daß die sicherheits- und verteidigungspolitischen Be-schlüsse durchgehend wenn nicht vom Europäischen Rat vom Rat (einstimmig) gefaßt werden, daß also das demokratische, besser: republikanische Par-lamentsprinzip für die existentielle Sicherheits- und Verteidigungspolitik bei-seite geschoben wird. Die mitgliedstaatlichen Parlamente sind bei der Rege-lung der Sicherheits- und Verteidigungspolitik in Zukunft ausgeschaltet, weil ihnen insgesamt die hinreichende Verhandlungs-, Kompromiß- und Entscheidungsfähigkeit (miteinander) fehlt. Das ist mit dem demokratischen Prinzip nicht vereinbar.

2. Die Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist fest in die Gemeinsame Au-ßen- und Sicherheitspolitik eingebettet. Diese aber ist durch Art. 11 (24) EUV vereinheitlicht. Nach Absatz 3 Unterabsatz 1 dieser Vorschrift „unterstützen die Mitgliedstaaten die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik aktiv und vorbehaltlos im Geist der Loyalität und der gegenseitigen Solidarität und ach-ten das Handeln der Union in diesem Bereich“. Sie „arbeiten zusammen, um ihre gegenseitige politische Solidarität zu stärken und weiterzuentwickeln“, und „enthalten sich jeder Handlung, die den Interessen der Union zuwider-läuft oder ihrer Wirksamkeit als kohärente Kraft in den internationalen Bezie-hungen schaden könnte“ (UAbs. 2). Für die Gemeinsame Außen- und Sicher-heitspolitik bestimmt nach Art. 12 (25) EUV die Union die allgemeinen Leit-linien und legen Beschlüsse die von der Union durchzuführenden Aktionen und die von der Union einzunehmenden Standpunkte, sowie die Einzelheiten für deren Durchführung fest. Die Union baut aber auch die systematische Zu-sammenarbeit bei der Führung ihrer Politik aus. Der Europäische Rat be-stimmt nach Art. 13 (26) Abs. 1 EUV die „strategischen Interessen der Union und legt die Ziele und die allgemeinen Leitlinien der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik fest und zwar auch bei Fragen mit verteidigungspoliti-schen Bezügen“. Diese und die weiteren Regelungen über die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik lassen es so gut wie nicht zu, daß ein Mitglied-staat eine eigene Sicherheits- und Verteidigungspolitik betreibt und die eigen-ständige Verteidigungsfähigkeit wahrt. Mit der Neutralität Österreichs ist das schlechterdings unvereinbar 708 . Österreich darf trotz Art. 23f B-VG die Defi-nitionshoheit des öffentlichen Interesses nicht an ‚supranationale' Instanzen übertragen, die keiner verfassungsgerichtlichen Kontrolle unterliegen und für die das Bundes-Verfassungsgesetz keinerlei Geltung hat. Mit dieser Entwick-lung wird die auch für Österreich maßgebliche Militärpolitik der gerichtlichen Kontrolle, selbst der des Europäischen Gerichtshofs (Art. 240a (275) Abs. 1 AEUV), entzogen 709 .

II. Immerwährende Neutralität

Dem Bundesheer obliegt die militärische Landesverteidigung (Art. 79 Abs. 1 B-VG). Nach Art. 23f B-VG wirkt Österreich an der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union aufgrund des Titels V des Ver-trages über die Europäische Union nach näherer Regelung dieser Vorschrift mit. Dazu gehören auch „Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung, ein-schließlich friedensichernder Maßnahmen“ (Abs. 3). Absatz 3 dieser Vor-schrift erlaubt den Einsatz des Bundesheeres außer zur Landesverteidigung nur, soweit dies durch Bundes-Verfassungsgesetz geregelt ist. Kampfeinsätze zur Krisenbewältigung gegen andere Völker und Staaten sind gegebenenfalls militärische Angriffe, auch wenn sie als humanitäre Interventionen zu recht-fertigen versucht werden 710 .

Der Vertrag von Lissabon regelt im Abschnitt 2 Kapitel 2 des Titels 5 des Vertrages über die Europäische Union über die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die in die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik integriert ist, „Missionen“, also Interventionen auf dem Gebiet anderer Staaten, die auch Kriege gegen andere Staaten sein können. Art. 28b (43) Abs. 1 EUV stellt das klar. Er lautet:

„Die in Artikel 28a Abs. 1 vorgesehenen Missionen, bei deren Durchführung die Union auf zivile und militärische Mittel zurückgreifen kann, umfassen gemeinsame Abrüstungsmaßnahmen, humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, Aufgaben der militärischen Beratung und Unterstützung, Aufgaben der Konfliktverhütung und der Erhaltung des Friedens sowie Kampfeinsätze im Rahmen der Krisenbewäl-tigung einschließlich Frieden schaffender Maßnahmen und Operationen zur Stabi-lisierung der Lage nach Konflikten. Mit allen diesen Missionen kann zur Bekämp-fung des Terrorismus beigetragen werden, unter anderem auch durch die Unterstüt-zung für Drittländer bei der Bekämpfung des Terrorismus in ihrem Hoheitsgebiet.“

Mit dieser Regelung gibt sich die Europäische Union ein begrenztes ius ad bellum. Sie umfaßt auch Kampfeinsätze im Rahmen der Krisenbewältigung einschließlich friedensschaffender Maßnahmen, Operationen zur Stabilisie-rung der Lage nach Konflikten. Das ist eine Umschreibung von Kriegen. Mis-sionen können zur Bekämpfung des Terrorismus durchgeführt werden, auch um Drittländer bei der Bekämpfung des Terrorismus in ihrem Hoheitsgebiet zu unterstützen. Auch das soll nach dem Vertrag von Lissabon Kriege recht-fertigen, jedenfalls militärischen, also kriegerischen Beistand. Terrorismus ist ein schwer definierbarer Begriff 711 . Mit dem Begriff des Terrorismus in einem Drittland läßt sich der Einmarsch in dieses Drittland und die Besetzung des Drittlandes rechtfertigen. Die gegenwärtige Politik der Vereinigten Staaten von Amerika und die völkerrechtliche Debatte, welche diese Politik auf sich gezogen hat, geben Anschauungsmaterial und Argumentationsgrundlagen. Diese Friedenspolitik genannte Außen- und Sicherheitspolitik hat sich offen von dem Nachkriegsparadigma des Gewaltverbots (Art. 2 Abs. 1 Charta der Vereinten Nationen) gelöst. Weltmächte und Großmächte fühlen sich für den Mit den Artikeln 28a bis e (42-46) EUV schafft der Verfassungsvertrag die rechtlichen Voraussetzungen anstelle der Vereinigten Staaten von Amerika als Groß- oder Weltmacht zu agieren. Die militärische Aufrüstung, die in Art. 28a (42) Abs. 3 UAbs. 2 S. 1 und Art. 28d (45) EUV angelegt ist, zielt auf diese Entwicklung. Durch die Integration in die Europäische Union hat sich der außen- und sicherheitspolitische Status Österreichs entgegen dem Be-kenntnis „immerwährender Neutralität“ (Art. 9a Abs. 1 S. 1 B-VG) grundle-gend verändert und verändert sich durch den Vertrag von Lissabon weiter. Das ist ein Paradigmenwechsel österreichischer Politik von existentieller Re-levanz, welche mit dem Baugesetz immerwährender Neutralität Österreichs unvereinbar ist. äußeren Frieden unter anderen Staat, aber auch für den inneren Frieden in an-deren Staaten verantwortlich. Das stellt die Gleichheit und Unabhängigkeit der Staaten, die Grundlage der Charta der Vereinten Nationen ist, in Frage.

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